Carlos Sastre hat einen Traum! Sein größter Wunsch ist es, gemeinsam mit seinem besten Freund und Schwager José Maria Jimenez auf einer bedeutenden Bergetappe der Vuelta oder der Tour de France zum Sieg zu sprinten. Jimenez, dessen Karriere 1993 im spanischen Banesto-Team beginnt, wo er als Helfer des großen Miguel Indurain agiert, wird 1997 Neunter der Tour de France, gewinnt viermal das Bergtrikot bei der Vuelta a España, die er 1998 als Gesamtdritter beendet. »El Chaba«, wie die Spanier ihn nennen, wird schnell zum Liebling der spanischen Radsportfans und gilt als Nachfolger von Miguel Indurain.
Und endlich ist es soweit! Der Traum des Carlos Sastre scheint Wirklichkeit zu werden. Am Schlussanstieg einer schweren Bergetappe der Vuelta 2001 schliesst Carlos Sastre (im Trikot des spanischen Teams Once) zu dem in Führung liegenden José Maria Jimenez (Team Banesto) auf. Die Freunde rasen alleine und Rad an Rad dem Ziel entgegen. Doch die Teamleitung von Once hat keinen Sinn für die Ambitionen Sastres und befiehlt ihn zurück, um seinem Kapitän Joseba Beloki zu helfen. Sein Traum ist geplatzt, diese Möglichkeit soll sich nie wieder bieten, Anfang 2002 beendet Jimenez seine Radsportkarriere aufgrund von Depressionen und großem Formrückstand. Gerüchte um Drogenprobleme und tiefe Depressionen gibt es bei Jimenez schon lange.
José Maria Jimenez stirbt am 6. Dezember 2003 an Herzversagen in einer psychiatrischen Klinik in der spanischen Hauptstadt Madrid.
Die Nachricht vom Tod seines Schwagers, zu dem er immer aufgeschaut hat, ereilt Carlos Sastre im Trainingslager seines neuen Rennstalls, dem dänischen Team CSC von Bjarne Riis. Sastre ist am Boden zerstört, frustriert und tief deprimiert. Am Tag darauf klettert Sastre in der Trainingsvorbereitung für das Bergzeitfahren der Tour de France 2004 mühsam die 21 Kehren von Alpe d’Huez hinauf, begleitet von den quälenden Gedanken an seinen »großen Bruder«, den Bergkönig José Maria Jimenez.
Bjarne Riis hat es in dieser Zeit schwer, Carlos Sastre zum Weitermachen zu motivieren. Er will ihn nicht drängen, weiß aber um die brillianten Möglichkeiten des kleinen Kletterers. Später gibt er zu, große Angst um die weitere Karriere des begabten Fahrers gehabt zu haben.
Carlos Sastre hat einen Traum! Er, der nach der Suspendierung von Ivan Basso der Kapitän bei CSC ist, liegt derzeit auf dem 6. Gesamtrang der Tour de France und kann sich morgen nun endgültig ein Stück seines Traums zurückholen. Denn es geht in die 13,8 km lange Steigung, die sich Sastre schon einen Tag nach dem schmerzhaften Tod seines Freundes hinauf gequält hat, den legendären Schluss-Anstieg von Alpe d’Huez. Und eines ist sicher – im Sturm auf den Gipfel wird Carlos Sastre seinen Freund José Maria Jimenez im Herzen tragen.
Matthias Fesel